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Erwartungswert

Was ist der Erwartungswert?

Der Erwartungswert ist ein fundamentales Konzept in der Wahrscheinlichkeitstheorie und Finanzmathematik, das den durchschnittlichen Wert angibt, den man bei der Wiederholung eines zufälligen Prozesses über eine sehr lange Zeit erwarten kann. Er repräsentiert das gewichtete Mittel aller möglichen Ergebnisse einer Zufallsvariable, wobei jedes Ergebnis mit seiner jeweiligen Wahrscheinlichkeit multipliziert wird. Der Erwartungswert liefert somit eine wichtige Kennzahl zur Bewertung von Situationen mit unsicheren Ausgängen, von Glücksspielen bis hin zu komplexen Anlageentscheidungen.

Geschichte und Ursprung

Die Ursprünge des Erwartungswerts reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück, als die frühen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie gelegt wurden. Entscheidend waren hierbei der Briefwechsel zwischen den französischen Mathematikern Blaise Pascal und Pierre de Fermat im Jahr 1654, der sich mit Problemen des Glücksspiels befasste. Sie analysierten, wie Gewinne in unterbrochenen Glücksspielen fair aufgeteilt werden sollten, was die Notwendigkeit einer mathematischen Erwartung hervorbrachte. Kurz darauf veröffentlichte der niederländische Wissenschaftler Christiaan Huygens im Jahr 1657 sein Werk "De ratiociniis in ludo aleae" (Über die Berechnung beim Glücksspiel), in dem er den Begriff der "mathematischen Erwartung" oder "Hoffnung" explizit formulierte und damit maßgeblich zur Popularisierung des Konzepts beitrug.

Ein weiterer Me8ilenstein in der Geschichte des Erwartungswerts war das Sankt-Petersburg-Paradoxon, ein Gedankenspiel, das im frühen 18. Jahrhundert von Nicolas Bernoulli vorgeschlagen und später von Daniel Bernoulli im Jahr 1738 in seiner Arbeit "Exposition of a New Theory on the Measurement of Risk" (Darlegung einer neuen Theorie zur Messung des Risikos) ausführlich behandelt wurde. Das Paradoxon zeigt6, 7e auf, dass ein Spiel mit einem unendlichen Erwartungswert dennoch einen begrenzten subjektiven Wert für einen rationalen Spieler haben kann, was zur Entwicklung der Nutzwerttheorie (Erwartungsnutzentheorie) führte.

Kernpunkte

  • D5er Erwartungswert ist der langfristige Durchschnittswert eines zufälligen Ereignisses oder einer Zufallsvariablen.
  • Er wird berechnet, indem jeder mögliche Ausgang mit seiner Wahrscheinlichkeit multipliziert und die Ergebnisse summiert werden.
  • Das Konzept ist ein zentrales Werkzeug in Statistik, Finanzwesen, Wirtschaft und vielen anderen Disziplinen zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit.
  • Ein positiver Erwartungswert deutet auf einen langfristigen Gewinn hin, ein negativer auf einen langfristigen Verlust. Ein Erwartungswert von Null bedeutet ein "faires Spiel".
  • Der Erwartungswert allein berücksichtigt kein Risiko oder individuelle Präferenzen, weshalb oft Konzepte wie die Nutzwerttheorie ergänzend herangezogen werden.

Formel und Berechnung

Der Erwartungswert ( E(X) ) einer diskreten Zufallsvariablen ( X ) wird berechnet, indem jeder mögliche Wert der Variablen mit seiner jeweiligen Wahrscheinlichkeit multipliziert und die Produkte summiert werden.

Die Formel lautet:

E(X)=i=1nxiP(xi)E(X) = \sum_{i=1}^{n} x_i \cdot P(x_i)

Dabei gilt:

  • ( E(X) ) ist der Erwartungswert der Zufallsvariablen ( X ).
  • ( x_i ) ist der ( i )-te mögliche Wert oder das ( i )-te Ergebnis.
  • ( P(x_i) ) ist die Wahrscheinlichkeitsverteilung für das Eintreten des Wertes ( x_i ).
  • ( \sum ) steht für die Summe über alle möglichen Ergebnisse.

Interpretation des Erwartungswerts

Der Erwartungswert sollte als ein langfristiger Durchschnitt interpretiert werden. Er sagt nicht aus, was bei einem einzelnen Ereignis passieren wird, sondern was im Durchschnitt zu erwarten ist, wenn das Experiment oder der Prozess unendlich oft wiederholt wird. Ein positiver Erwartungswert bedeutet, dass man bei wiederholter Durchführung im Mittel einen Gewinn erwarten kann. Ein negativer Erwartungswert impliziert einen durchschnittlichen Verlust. Ist der Erwartungswert gleich Null, spricht man von einem "fairen Spiel", bei dem weder der Spieler noch der Anbieter auf lange Sicht einen Vorteil hat.

Es ist wichtig zu verstehen, das4s der Erwartungswert keine Garantie für ein bestimmtes Ergebnis bei einer einzelnen Instanz ist. Eine hohe Volatilität der möglichen Ergebnisse kann trotz eines positiven Erwartungswerts zu erheblichen Abweichungen im kurzfristigen Verlauf führen.

Hypothetisches Beispiel

Angenommen, Sie spielen ein einfaches Würfelspiel:

  • Wenn Sie eine 6 würfeln, gewinnen Sie 10 Euro.
  • Wenn Sie eine 5 würfeln, gewinnen Sie 5 Euro.
  • Wenn Sie eine 1, 2, 3 oder 4 würfeln, verlieren Sie 3 Euro (Einsatz).

Die Wahrscheinlichkeit für jede Zahl ist 1/6.

Um den Erwartungswert dieses Spiels zu berechnen, multiplizieren wir jeden möglichen Gewinn oder Verlust mit seiner Wahrscheinlichkeit und summieren die Ergebnisse:

  • Gewinn bei 6: ( +10 \text{ Euro} \times \frac{1}{6} = +1.67 \text{ Euro} )
  • Gewinn bei 5: ( +5 \text{ Euro} \times \frac{1}{6} = +0.83 \text{ Euro} )
  • Verlust bei 1, 2, 3 oder 4: ( -3 \text{ Euro} \times \frac{4}{6} = -2.00 \text{ Euro} )

Der Erwartungswert ( E(X) ) ist die Summe dieser Werte:
( E(X) = 1.67 + 0.83 - 2.00 = +0.50 \text{ Euro} )

Das bedeutet, dass Sie bei diesem Spiel auf lange Sicht im Durchschnitt 0,50 Euro pro Runde gewinnen würden. Dies macht das Spiel aus Spielersicht vorteilhaft, da der Erwartungswert positiv ist. Der Betreiber des Spiels würde auf lange Sicht einen Verlust von 0,50 Euro pro Runde erwarten. Der Begriff der Auszahlung spielt hierbei eine zentrale Rolle.

Praktische Anwendungen

Der Erwartungswert findet in zahlreichen Bereichen des Finanzwesens und darüber hinaus Anwendung:

  • Glücksspiel und Lotterien: Er wird verwendet, um die durchschnittlichen Gewinne oder Verluste für Spieler und Betreiber zu bestimmen. Die Regulierung von Glücksspielen, wie durch den Glücksspielstaatsvertrag in Deutschland, zielt unter anderem darauf ab, faire Rahmenbedingungen zu schaffen und Spieler zu schützen, wobei der Erwartungswert ein Kriterium für die Fairness eines Spiels sein kann.
  • Versicherung, 3/versicherung): Versicherungsunternehmen nutzen den Erwartungswert, um Prämien zu kalkulieren. Sie schätzen die Wahrscheinlichkeit eines Schadens und die Höhe der möglichen Auszahlung, um eine Prämie festzulegen, die es ihnen ermöglicht, langfristig profitabel zu sein.
  • Portfolio-Management: Investoren bewerten potenzielle Renditen von Anlagen wie Anleihen oder Aktien oft auf Basis ihres Erwartungswerts. Er dient als Maß für die erwartete Rentabilität einer Investition, obwohl hierbei auch das Risiko und die Streuung der möglichen Ergebnisse (z.B. durch die Volatilität) berücksichtigt werden müssen.
  • Finanzinstrumente: Bei der Bewertung komplexer Finanzprodukte wie Derivate kommt der Erwartungswert häufig zum Einsatz, oft in Verbindung mit Risikoneutraler Bewertung, um faire Preise zu ermitteln.
  • Projektmanagement: Bei Investitionsprojekten wird der Erwartungswert eingesetzt, um den durchschnittlichen Nutzen oder Kosten eines Projekts unter Berücksichtigung verschiedener Szenarien und deren Wahrscheinlichkeiten zu schätzen.

Einschränkungen und Kritik

Obwohl der Erwartungswert ein mächtiges Werkzeug ist, hat er auch seine Grenzen:

  • Ignoranz von Risiko: Der Erwartungswert berücksichtigt lediglich den durchschnittlichen Ausgang und nicht die Streuung oder das Ausmaß der möglichen Verluste. Zwei Anlageoptionen könnten denselben Erwartungswert haben, aber ein völlig unterschiedliches Risikoprofil aufweisen. Ein Anleger mit hoher Risikoaversion würde die Option mit geringerer Volatilität bevorzugen, selbst wenn der Erwartungswert gleich ist.
  • Langfristige Betrachtung: Der Erwartungswert ist eine langfristige statistische Größe. Im Einzelfall oder bei einer begrenzten Anzahl von Wiederholungen kann das tatsächliche Ergebnis erheblich vom Erwartungswert abweichen. Dies ist besonders relevant für Situationen, die nicht oft wiederholt werden können (z.B. eine große einmalige Investition).
  • Annahmen über Wahrscheinlichkeiten: Die Genauigkeit des Erwartungswerts hängt stark von der Korrektheit der zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeitsverteilung ab. In der Praxis sind diese Wahrscheinlichkeiten oft Schätzungen und können Unsicherheiten unterliegen.
  • Verhaltensökonomie: Die Verhaltensökonomie hat gezeigt, dass Menschen Entscheidungen unter Unsicherheit oft nicht allein auf Basis des Erwartungswerts treffen. Psychologen wie Daniel Kahneman und Amos Tversky haben herausgefunden, dass kognitive Verzerrungen und Heuristiken eine Rolle spielen, was zu Abweichungen von der rationalen Entscheidung auf Basis des Erwartungswerts führen kann. Beispielsweise bewerten Menschen Verluste in der Regel stärker als Gewinne gleicher Höhe (Ve1rlustaversion).

Erwartungswert vs. Risiko

Der Erwartungswert und das Risiko sind zwei eng miteinander verbundene, aber unterschiedliche Konzepte in der Finanzanalyse und Entscheidungsfindung.

Der Erwartungswert konzentriert sich auf den durchschnittlichen Wert eines Ergebnisses über eine lange Reihe von Wiederholungen. Er gibt an, was man im Durchschnitt zu erwarten hat. Ein positiver Erwartungswert bedeutet einen durchschnittlichen Gewinn, ein negativer einen durchschnittlichen Verlust.

Risiko hingegen beschreibt die Unsicherheit oder Volatilität der möglichen Ergebnisse um diesen Erwartungswert. Es misst das Potenzial für Abweichungen vom erwarteten Ergebnis, sowohl nach oben als auch nach unten, wobei der Fokus oft auf den negativen Abweichungen liegt. Ein hohes Risiko bedeutet, dass die tatsächlichen Ergebnisse stark vom Erwartungswert abweichen können, während ein geringes Risiko eine engere Streuung um den Erwartungswert impliziert. Häufig wird Risiko durch Kennzahlen wie Standardabweichung oder Varianz quantifiziert.

Während der Erwartungswert die potenzielle Rentabilität bewertet, quantifiziert das Risiko die Ungewissheit dieser Rentabilität. Eine fundierte Anlageentscheidung erfordert immer die Berücksichtigung beider Konzepte.

FAQs

1. Ist der Erwartungswert dasselbe wie der Durchschnitt?

Ja, im Grunde schon. Der Erwartungswert ist der gewichtete Durchschnitt aller möglichen Ergebnisse, wobei die Gewichte ihre jeweiligen Wahrscheinlichkeiten sind. Wenn alle Ergebnisse die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, entspricht der Erwartungswert dem einfachen arithmetischen Mittel.

2. Kann der Erwartungswert negativ sein?

Ja, der Erwartungswert kann negativ sein. Ein negativer Erwartungswert bedeutet, dass Sie auf lange Sicht im Durchschnitt einen Verlust erwarten würden. Dies ist typisch für die meisten Glücksspiele aus Spielersicht, da die Betreiber eine Gewinnmarge benötigen.

3. Was bedeutet ein Erwartungswert von null?

Ein Erwartungswert von null bedeutet, dass das Spiel oder die Situation auf lange Sicht "fair" ist. Weder der Spieler noch der Anbieter können einen durchschnittlichen Gewinn erwarten; Gewinne und Verluste gleichen sich im Mittel aus. Solche "fairen Spiele" sind in der Realität selten, da Anbieter in der Regel eine Gebühr für ihre Dienstleistung erheben.

4. Sollte ich immer Entscheidungen basierend auf dem Erwartungswert treffen?

Der Erwartungswert ist ein wichtiges Kriterium, aber nicht das einzige. Er ignoriert das Risiko und Ihre persönliche Risikobereitschaft. Ein Anleger mit hoher Risikoaversion würde beispielsweise eine Anlage mit geringerem Risiko bevorzugen, selbst wenn eine andere Anlage einen etwas höheren Erwartungswert, aber auch ein deutlich höheres Risiko aufweist. Die Nutzwerttheorie versucht, die individuelle Präferenz für Risiko in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.