Erwarteter Fehlbetrag
Der Erwartete Fehlbetrag, auch als Conditional Value at Risk (CVaR) oder Tail Value at Risk (TVaR) bekannt, ist ein Risikomaß, das den durchschnittlichen Verlust quantifiziert, der über einem bestimmten Quantil der Verlustverteilung liegt. Im Kontext des Risikomanagements und der Portfoliotheorie bietet der Erwartete Fehlbetrag eine umfassendere Sicht auf das Extremrisiko als andere Risikomaße, da er nicht nur die Höhe eines potenziellen Verlusts bei einem bestimmten Konfidenzniveau angibt, sondern auch das Ausmaß der Verluste, die über diesem Niveau hinausgehen. Er wird häufig verwendet, um das potenzielle Ausmaß von Verlusten in extremen Marktszenarien zu bewerten und die Kapitalanforderungen für Finanzinstitute zu bestimmen.
Geschichte und Ursprung
Die Entwicklung von Risikomaßen in der Finanzwelt hat eine lange Geschichte, die sich aus der Notwendigkeit ergab, Unsicherheit und potenzielle Verluste zu quantifizieren. Während der Value at Risk (VaR) in den 1990er Jahren weite Verbreitung fand, insbesondere nach der Bankenkrise von 1993, wurden seine Grenzen, insbesondere die Unfähigkeit, "Tail Risk" oder extreme Verluste jenseits eines bestimmten Schwellenwerts zu erfassen, schnell deutlich. Als Reaktion auf diese Mängel und die Notwendigkeit robusterer Risikobewertungen nach Finanzkrisen, wurde der Erwartete Fehlbetrag als kohärentes Risikomaß zunehmend in den Fokus gerückt. Seine theoretischen Vorteile, wie die Subadditivität – was bedeutet, dass die Risikomaße eines kombinierten Portfolios nie höher sind als die Summe der Risikomaße der Einzelpositionen – führten dazu, dass er von Regulierungsbehörden wie dem Basler Ausschuss für Bankenaufsicht im Rahmen von Basel III als primäres Maß für das Marktrisiko vorgeschlagen und teilweise implementiert wurde, um die zuvor für die internen Modelle verwendeten VaR-Ansätze zu ersetzen. Die akademische Fundierung des 5Erwarteten Fehlbetrags wurde unter anderem durch Arbeiten wie die von Carlo Acerbi und Dirk Tasche gestärkt, die seine wünschenswerten Eigenschaften als Risikomaß hervorhoben.
Wichtige Erkenntnisse
- Der4 Erwartete Fehlbetrag misst den durchschnittlichen Verlust, der eintritt, wenn der Verlust den Value at Risk (VaR) überschreitet.
- Er ist ein "kohärentes" Risikomaß, was bedeutet, dass er bestimmte wünschenswerte mathematische Eigenschaften erfüllt, die VaR nicht immer erfüllt, insbesondere die Subadditivität.
- Er wird in der Praxis zur Berechnung von Risikokapital, zur Portfolio-Optimierung und zur Entscheidungsfindung im Risikomanagement eingesetzt.
- Der Erwartete Fehlbetrag liefert eine konservativere und umfassendere Einschätzung des Extremrisikos als der VaR.
Formel und Berechnung
Der Erwartete Fehlbetrag kann auf verschiedene Arten berechnet werden, oft basierend auf der Verlustverteilung eines Portfolios oder einer Position. Die allgemeine Formel für den Erwarteten Fehlbetrag (ES) bei einem Konfidenzniveau ((1 - \alpha)) ist der bedingte Erwartungswert der Verluste, die den Value at Risk (VaR) bei diesem Konfidenzniveau übersteigen.
Formal kann der Erwartete Fehlbetrag wie folgt ausgedrückt werden:
Dabei ist:
- (X) = Die Zufallsvariable, die den Verlust darstellt.
- (\alpha) = Das Konfidenzniveau (z.B. 0,01 für 99 % Konfidenzniveau, d.h. die schlechtesten 1 % der Fälle).
- (\text{VaR}_{\alpha}(X)) = Der Value at Risk bei dem Konfidenzniveau (\alpha), d.h., der Verlustwert, der mit einer Wahrscheinlichkeit von ((1-\alpha)) nicht überschritten wird.
- (E[\cdot | \cdot]) = Der bedingte Erwartungswert.
Für eine kontinuierliche Verlustverteilung mit einer Dichtefunktion (f(x)), kann der Erwartete Fehlbetrag auch als Integral ausgedrückt werden:
In der Praxis wird der Erwartete Fehlbetrag oft durch historische Monte-Carlo-Simulationen oder parametrische Methoden berechnet, indem die tatsächlichen Verluste aus den schlechtesten (\alpha) Prozent der Fälle gemittelt werden.
Interpretation des Erwarteten Fehlbetrags
Der Erwartete Fehlbetrag (ES) gibt den zu erwartenden durchschnittlichen Verlust an, wenn die Verluste tatsächlich das Niveau des Value at Risk (VaR) überschreiten. Wenn beispielsweise ein Portfolio einen 99%-Erwarteten Fehlbetrag von 1 Million Euro aufweist, bedeutet dies, dass in den schlechtesten 1 % der Fälle (gemessen an der Verlustverteilung) der durchschnittliche Verlust 1 Million Euro betragen wird.
Diese Kennzahl ist besonders aussagekräftig für das Verständnis von "Extremereignissen", da sie über den reinen Schwellenwert des VaR hinausgeht. Während der VaR nur aussagt, wie hoch der Verlust sein wird, der mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird, berücksichtigt der Erwartete Fehlbetrag das gesamte Ausmaß der Verluste im sogenannten "Tail" der Verteilung. Dies macht ihn zu einem entscheidenden Werkzeug für die Bewertung und Steuerung von Marktrisiken und anderen Risikotypen, die zu extremen Ausprägungen führen können.
Hypothetisches Beispiel
Angenommen, ein Hedgefonds hat ein Portfolio und möchte seinen 95%-Erwarteten Fehlbetrag (ES) über einen Zeitraum von einem Monat berechnen.
- Historische Daten sammeln: Der Fonds sammelt die monatlichen Verlust-/Gewinn-Daten der letzten 200 Monate für dieses Portfolio.
- Verluste identifizieren: Es werden die 5 % schlimmsten Monate identifiziert (200 Monate * 5 % = 10 Monate).
- VaR bestimmen: Zuerst wird der 95%-VaR bestimmt. Dies ist der Verlustwert, der in 95 % der Fälle nicht überschritten wurde. Angenommen, der 10. schlimmste Monat hatte einen Verlust von 500.000 Euro. Der 95%-VaR wäre also 500.000 Euro. Dies bedeutet, dass in 5 % der Fälle (oder in 10 Monaten von 200) der Verlust 500.000 Euro oder mehr betrug.
- Verluste im "Tail" mitteln: Nun werden die tatsächlichen Verluste der 10 schlimmsten Monate (die Monate, in denen der Verlust 500.000 Euro oder mehr betrug) addiert und durch die Anzahl dieser Monate geteilt.
- Monat 1: -600.000 €
- Monat 2: -750.000 €
- Monat 3: -550.000 €
- Monat 4: -800.000 €
- Monat 5: -900.000 €
- Monat 6: -650.000 €
- Monat 7: -700.000 €
- Monat 8: -1.000.000 €
- Monat 9: -520.000 €
- Monat 10: -830.000 €
Summe der Verluste in den schlimmsten 10 Monaten: 7.300.000 €
- Erwarteten Fehlbetrag berechnen: Der Erwartete Fehlbetrag ist der Durchschnitt dieser Verluste:
[
\text{ES}_{95%} = \frac{7.300.000 €}{10} = 730.000 €
]
Das Ergebnis bedeutet, dass, wenn die monatlichen Verluste des Portfolios den 95%-VaR von 500.000 Euro überschreiten, der durchschnittliche Verlust bei 730.000 Euro liegt. Dies liefert eine wesentlich aussagekräftigere Information über das Ausmaß extremer Verluste, als der VaR allein es könnte. Diese Art der Analyse ist auch für die Bestimmung der nötigen Liquiditätsreserven oder für das Design von Finanzderivaten relevant.
Praktische Anwendungen
Der Erwartete Fehlbetrag findet in der Finanzwirtschaft breite Anwendung, insbesondere dort, wo das Verständnis von Extremrisiken kritisch ist:
- Regulatorische Kapitalanforderungen: Finanzinstitute, insbesondere Banken, verwenden den Erwarteten Fehlbetrag zur Berechnung ihrer regulatorischen Kapitalanforderungen für das Marktrisiko. Im Zuge von Basel III wurde der Erwartete Fehlbetrag als bevorzugtes Risikomaß für interne Modelle eingeführt, um die Widerstandsfähigkeit der Banken gegenüber extremen Marktbedingungen zu stärken.
- Risikomanagement und Limit-Setting: Unternehmen nutzen den Erwarteten Fehlbetrag, um Risikolimits für Handelsa3bteilungen, Portfolios oder Geschäftsbereiche festzulegen. Dies hilft, die Exposition gegenüber unerwünschten Marktrisiken, Kreditrisiken und Liquiditätsrisiken zu steuern und zu überwachen.
- Portfolio-Optimierung: Im Rahmen der Portfolio-Optimierung kann der Erwartete Fehlbetrag als Optimierungsziel oder als Nebenbedingung verwendet werden, um Portfolios zu konstruieren, die nicht nur eine gewünschte Rendite erzielen, sondern auch das Extremrisiko minimieren.
- Stresstests und Szenarioanalysen: Der Erwartete Fehlbetrag ist ein integraler Bestandteil von Stresstests, bei denen simuliert wird, wie sich Portfolios unter extremen, aber plausiblen Marktbewegungen verhalten würden. Er hilft, die potenziellen Verluste in solchen Krisenszenarien besser zu verstehen und entsprechende Notfallpläne zu entwickeln.
- Versicherungs- und Pensionsfonds: Auch in der Versicherungsmathematik und bei Pensionsfonds wird der Erwartete Fehlbetrag eingesetzt, um die Risiken von Versicherungsverpflichtungen und Anlageportfolios zu bewerten und die erforderlichen Rückstellungen oder Kapitalpuffer zu bestimmen.
Einschränkungen und Kritikpunkte
Trotz seiner Vorteile und der Anerkennung als "kohärentes" Risikomaß hat der Erwartete Fehlbetrag (ES) ebenfalls Grenzen und wird kritisiert:
- Abhängigkeit von Modellen: Wie viele komplexe Risikomaße ist auch der Erwartete Fehlbetrag stark modellabhängig. Die Genauigkeit der ES-Berechnung hängt von der Qualität der zugrundeliegenden Verlustverteilung ab, die oft auf historischen Daten oder statistischen Annahmen basiert. Extreme Ereignisse sind per Definition selten, wodurch ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten und Auswirkungen schwer zu modellieren sind. Das Versagen von Risikomodellen vor der Finanzkrise 2008 zeigte die Gefahren einer übermäßigen Abhängigkeit von Modellen, die extreme Marktbewegungen nicht adäquat berücksichtigten.,
- Sensibilität gegenüber Ausreißern: Da der ES den Durchschnitt der schlechtesten Verluste berechnet, kann er sehr empfindlich auf einz2e1lne, extrem große Verluste reagieren, die in der Stichprobe enthalten sind. Ein einziger atypischer Ausreißer kann den berechneten Erwarteten Fehlbetrag erheblich verändern und die Prognose der zukünftigen Verluste verzerren.
- Schwierigkeiten beim Backtesting: Im Gegensatz zum VaR ist der Erwartete Fehlbetrag nicht "elicitabel", was das Backtesting erschwert. Die Elicitability bezieht sich auf die Eigenschaft eines Risikomaßes, das es ermöglicht, seine Qualität direkt anhand von Beobachtungen zu überprüfen. Dies macht es herausfordernder, die Güte eines ES-Modells im Nachhinein statistisch zu bewerten und zu bestätigen.
- Komplexität und Implementierung: Die Berechnung und Implementierung des Erwarteten Fehlbetrags kann komplexer sein als die des VaR, insbesondere bei großen Portfolios mit vielen Assets und komplexen Konditionalen Wahrscheinlichkeiten oder Abhängigkeitsstrukturen. Dies erfordert oft fortschrittliche numerische Methoden wie die Monte-Carlo-Simulation.
- Verständlichkeit: Für Nicht-Experten kann die Interpretation des Erwarteten Fehlbetrags weniger intuitiv sein als die des VaR, da er einen bedingten Durchschnitt darstellt und nicht nur einen Schwellenwert. Dies kann die Kommunikation von Risikoinformationen erschweren.
Erwarteter Fehlbetrag vs. Value at Risk
Der Erwartete Fehlbetrag (ES) und der Value at Risk (VaR) sind beides wichtige Risikomaße im Finanzbereich, die jedoch unterschiedliche Aspekte des Verlustrisikos beleuchten. Die Verwechslung zwischen den beiden ist häufig, obwohl ihre Anwendungsbereiche und die Informationen, die sie liefern, unterschiedlich sind.
Merkmal | Erwarteter Fehlbetrag (ES) | Value at Risk (VaR) |
---|---|---|
Definition | Durchschnittlicher Verlust, wenn der VaR überschritten wird. | Maximaler Verlust bei einem bestimmten Konfidenzniveau. |
"Tail Risk" | Erfasst das Ausmaß der Verluste im "Tail" der Verteilung. | Ignoriert Verluste jenseits des VaR-Schwellenwerts. |
Kohärenz | Gilt als kohärentes Risikomaß (erfüllt Subadditivität). | Ist kein kohärentes Risikomaß (verletzt oft Subadditivität). |
Information | Gibt Aufschluss über die Schwere extremer Verluste. | Gibt Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit eines Verlusts über einem Schwellenwert. |
Intuition | Weniger intuitiv für Laien, da es ein bedingter Erwartungswert ist. | Relativ intuitiv als maximaler Verlust bei einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. |
Anwendung | Bevorzugt für regulatorische Zwecke (z.B. Basel III) und zur Steuerung extremer Risiken. | Weit verbreitet für tägliches Risikomanagement und Reporting. |
Der Hauptunterschied liegt darin, dass der VaR lediglich einen Schwellenwert für Verluste angibt, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit nicht überschritten werden, während der Erwartete Fehlbetrag den durchschnittlichen Verlust oberhalb dieses Schwellenwerts misst. Das bedeutet, dass der ES die potenziell katastrophalen Verluste besser erfasst, die der VaR "verpasst", wenn sie jenseits des definierten Konfidenzniveaus liegen. Dies ist besonders wichtig für die Diversifikation und das Risikomanagement großer Portfolios.
FAQs
1. Warum ist der Erwartete Fehlbetrag "kohärent", der Value at Risk (VaR) aber nicht?
Der Erwartete Fehlbetrag erfüllt im Gegensatz zum VaR die Eigenschaft der Subadditivität. Das bedeutet, dass das Risikomaß zweier kombinierter Portfolios nie größer ist als die Summe der Risikomaße der einzelnen Portfolios. Dies ist eine wünschenswerte Eigenschaft, da sie die Vorteile der Diversifikation korrekt widerspiegelt; das Zusammenfassen von Risiken sollte nicht zu einem höheren Gesamtrisiko führen als die Summe der Einzelrisiken. VaR kann diese Eigenschaft unter bestimmten Umständen verletzen, insbesondere bei nicht-normalverteilten Verlusten.
2. Kann der Erwartete Fehlbetrag kleiner sein als der Value at Risk?
Nein, das ist per Definition nicht möglich. Der Erwartete Fehlbetrag berechnet den Durchschnitt der Verluste, die größer sind als der Value at Risk (VaR). Da er einen Durchschnitt über die extremsten Verluste bildet, muss er immer gleich oder größer als der VaR bei demselben Konfidenzniveau sein.
3. Für welche Art von Verlustverteilungen ist der Erwartete Fehlbetrag besonders relevant?
Der Erwartete Fehlbetrag ist besonders relevant für Verlustverteilungen, die "Heavy Tails" aufweisen, also Verteilungen, bei denen extreme Ereignisse häufiger auftreten, als es eine Normalverteilung vermuten ließe. Dazu gehören viele Finanzmarktdaten, die durch Ereignisse wie Finanzkrisen oder plötzliche Marktbewegungen gekennzeichnet sind. In solchen Fällen liefert der Erwartete Fehlbetrag eine realistischere Einschätzung des Extremrisikos als der VaR.
4. Welche Daten werden für die Berechnung des Erwarteten Fehlbetrags benötigt?
Für die Berechnung des Erwarteten Fehlbetrags werden in der Regel historische Renditedaten oder Verlust-/Gewinn-Daten des zu analysierenden Portfolios oder Assets benötigt. Alternativ können auch Daten aus Monte-Carlo-Simulationen verwendet werden, die eine Vielzahl von Szenarien und potenziellen Verlusten generieren. Je länger und qualitativ hochwertiger die Datenreihe ist, desto robuster ist die Schätzung des Erwarteten Fehlbetrags.