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Erwartungsnutzentheorie

Was ist die Erwartungsnutzentheorie?

Die Erwartungsnutzentheorie (Expected Utility Theory, EUT) ist ein grundlegendes Konzept der Entscheidungstheorie und der Verhaltensökonomie, das erklärt, wie rationale Akteure Entscheidungen unter Unsicherheit treffen. Sie postuliert, dass Individuen aus einer Reihe von Optionen diejenige wählen, die ihren erwarteten Nutzen maximiert, wobei der Nutzen eine subjektive Messgröße für die Zufriedenheit oder den Wert darstellt, den ein Ergebnis für sie hat. Im Kern geht die Erwartungsnutzentheorie davon aus, dass Entscheidungsträger die verschiedenen möglichen Ergebnisse einer Handlung und die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten berücksichtigen und dann die Option wählen, die ihnen im Durchschnitt den größten subjektiven Wert bringt.

Geschichte und Ursprung

Die grundlegenden Ideen der Erwartungsnutzentheorie lassen sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Schweizer Mathematiker Daniel Bernoulli legte 1738 in seiner Abhandlung „Exposition of a New Theory on the Measurement of Risk“ (Eine neue Theorie zur Messung des Risikos) den Grundstein. Er schlug vor, dass Menschen Entscheidungen nicht basierend auf dem monetären Erwartungswert eines Ergebnisses treffen, sondern auf dessen subjektivem Nutzen, der mit zunehmendem Reichtum abnimmt – ein Konzept, das als abnehmender Grenznutzen bekannt ist. Bernoulli nutzte diese Idee, um das sogenannte St. Petersburg Paradox zu lösen, ein Gedankenexperiment, bei dem der mathematische Erwartungswert unendlich hoch ist, die Menschen aber dennoch nur einen begrenzten Betrag dafür zahlen würden..

Eine formale und axiomatische Grundlage erhielt die Erwartungsnutzentheorie jedoch erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Mathematiker John von Neumann und der Ökonom Oskar Morgenstern präsentierten 1944 in ihrem wegweisenden Werk "Theory of Games and Economic Behavior" (Theorie der Spiele und des Wirtschaftsverhaltens) eine umfassende Formulierung. Sie entwickelten eine Re15, 16ihe von Axiomen des Rationelles Verhalten, die, wenn sie erfüllt sind, implizieren, dass ein rationaler Akteur diejenige Option wählt, die den erwarteten Wert seiner Nutzenfunktion maximiert. Ihre Arbeit war nicht nur entscheidend für die Erwartungsnutzentheorie, sondern begründete auch das interdisziplinäre Forschungsfeld der Spieltheorie.

Kernpunkte

  • Die Erwar14tungsnutzentheorie besagt, dass rationale Individuen bei Entscheidungen unter Unsicherheit die Option wählen, die ihren erwarteten subjektiven Nutzen maximiert.
  • Der Nutzen ist eine individuelle Messgröße für Zufriedenheit oder Wert, der nicht unbedingt linear mit dem monetären Ergebnis korreliert.
  • Die Theorie berücksichtigt die Risikobereitschaft eines Individuums; risikoaverse Personen haben eine konkave Nutzenfunktion, risikofreudige Personen eine konvexe und risikoneutrale Personen eine lineare Funktion.
  • Sie ist ein normatives Modell, das beschreibt, wie rationale Akteure handeln sollten, nicht unbedingt, wie sie in der Realität handeln.
  • Trotz ihrer weiten Verbreitung wird die Erwartungsnutzentheorie kritisiert, da empirische Studien zeigen, dass das menschliche Entscheidungsverhalten oft von den Annahmen der Theorie abweicht.

Formel und Berechnung

Die Erwartungsnutzen (EU) einer Entscheidung wird berechnet, indem der Nutzen jedes möglichen Ergebnisses mit seiner Wahrscheinlichkeit multipliziert und die Produkte summiert werden. Die Formel lautet:

EU(X)=i=1npiu(xi)EU(X) = \sum_{i=1}^{n} p_i \cdot u(x_i)

Dabei gilt:

  • (EU(X)) ist der erwartete Nutzen der Option X.
  • (p_i) ist die Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses (x_i).
  • (u(x_i)) ist der Nutzen des Ergebnisses (x_i).
  • (n) ist die Anzahl der möglichen Ergebnisse.

Die Nutzenfunktion (u(x)) ist dabei eine Darstellung der Präferenzen eines Individuums für verschiedene Ergebnisse. Für risikoaverse Individuen ist diese Funktion in der Regel konkav, was bedeutet, dass der zusätzliche Nutzen aus einem weiteren Vermögenszuwachs abnimmt, je reicher die Person bereits ist.

Interpretation der Erwartungsnutzentheorie

Die Erwartungsnutzentheorie wird interpretiert als ein Rahmenwerk für die rationale Entscheidungsfindung unter Unsicherheit. Wenn ein Individuum oder eine Organisation vor einer Wahl steht, bei der die Ergebnisse nicht sicher sind, hilft die Theorie dabei, die Option zu identifizieren, die im Durchschnitt die höchste subjektive Zufriedenheit oder den höchsten Wert liefert.

Die Form der Nutzenfunktion eines Individuums ist entscheidend für die Interpretation seiner Entscheidungen. Eine konkave Nutzenfunktion, die den abnehmenden Grenznutzen widerspiegelt, charakterisiert eine risikoaverse Person, die einen sicheren Betrag einem unsicheren Glücksspiel mit gleichem oder sogar höherem Erwartungswert vorzieht. Eine lineare Nutzenfunktion würde auf Risikoneutralität hindeuten, während eine konvexe Funktion Risikofreude signalisiert. Die Theorie geht davon aus, dass Akteure ihre Entscheidungen auf der Grundlage dieser subjektiven Nutzenbewertungen treffen, um ihren erwarteten Nutzen zu maximieren.

Hypothetisches Beispiel

Angenommen, eine Investorin steht vor der Wahl zwischen zwei Investitionsentscheidungen:

Option A: Sicherer Gewinn

  • Ein sicherer Gewinn von 50.000 €.

Option B: Glücksspiel

  • 60% Chance auf einen Gewinn von 100.000 €
  • 40% Chance auf 0 €

Die Investorin hat eine Nutzenfunktion, die durch (u(x) = \ln(x)) beschrieben wird (wobei (x) der Geldbetrag ist). Ihr aktuelles Vermögen beträgt 100.000 €.

  1. Berechnung des Nutzens für Option A:
    Der endgültige Vermögenswert wäre 100.000 € (aktuelles Vermögen) + 50.000 € (Gewinn) = 150.000 €.
    Der Nutzen von Option A ist (u(150.000) = \ln(150.000) \approx 11,918).

  2. Berechnung des erwarteten Nutzens für Option B:

    • Ergebnis 1: Gewinn von 100.000 €. Endgültiger Vermögenswert: 100.000 € + 100.000 € = 200.000 €. Nutzen: (u(200.000) = \ln(200.000) \approx 12,206).
    • Ergebnis 2: Gewinn von 0 €. Endgültiger Vermögenswert: 100.000 € + 0 € = 100.000 €. Nutzen: (u(100.000) = \ln(100.000) \approx 11,513).

    Der erwartete Nutzen von Option B ist:
    (EU(B) = (0,60 \cdot \ln(200.000)) + (0,40 \cdot \ln(100.000)))
    (EU(B) = (0,60 \cdot 12,206) + (0,40 \cdot 11,513))
    (EU(B) = 7,3236 + 4,6052 = 11,9288)

  3. Vergleich:

    • Erwarteter Nutzen Option A: 11,918
    • Erwarteter Nutzen Option B: 11,9288

Obwohl der erwartete monetäre Gewinn von Option B (60.000 €) höher ist als der von Option A (50.000 €), würde die Investorin mit dieser spezifischen Nutzenfunktion die Option B wählen, da ihr erwarteter Nutzen geringfügig höher ist. Dies zeigt, wie die Erwartungsnutzentheorie über den reinen Geldwert hinausgeht, um die subjektive Präferenz eines Individuums widerzuspiegeln.

Praktische Anwendungen

Die Erwartungsnutzentheorie findet in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft und Finanzplanung breite Anwendung, insbesondere dort, wo Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden müssen.

  • Investitionsentscheidungen: Anleger nutzen die Prinzipien der Erwartungsnutzentheorie, um verschiedene Anlageoptionen zu bewerten, indem sie nicht nur die potenziellen Renditen, sondern auch die damit verbundenen Risiken und ihre eigene Risikobereitschaft berücksichtigen. Dies ist ein Kernelement der modernen Portfolio-Theorie..
  • Versicherung: Die Theorie erklärt, warum Menschen bereit sind, eine Risikoprämie in Form von Versicherungsprämien zu zahlen, obwohl der Erwartungswert einer Versicherung für sie negativ ist. Sie tauschen einen kleinen, sicheren Verlust (die Prämie) gegen die Eliminierung eines großen, unsicheren Verlusts (Schadenfall) ein, was ihren erwarteten Nutzen erhöht.
  • Risikomanagement: Unternehmen und Finanzinstitute wenden die Erwartungsnutzentheorie an, um Strategien zum [R11isikomanagement]() zu entwickeln. Sie bewerten die potenziellen Kosten und Nutzen verschiedener risikomindernder Maßnahmen, um die Optionen zu wählen, die ihren erwarteten Nutzen maximieren, oder um das Risiko auf ein akzeptables Niveau zu reduzieren.
  • Öffentliche Politik: Politische Entscheidungsträger verwenden die Erwartungsnutzentheorie, um die erwarteten Vo10rteile und Kosten verschiedener Politikoptionen zu bewerten, insbesondere in Bereichen wie Umweltpolitik, Gesundheitswesen oder sozialer Sicherheit.

Einschränkungen und Kritik

Trotz ihrer weiten Verbreitung und ihres Einflusses ist die Erwartungsnutzentheorie Gegen8, 9stand erheblicher Kritik, hauptsächlich weil sie das tatsächliche menschliche Entscheidungsverhalten nicht immer genau widerspiegelt.

Ein prominenter Kritikpunkt ist das Allais-Paradoxon, das 1953 vom französischen Ökonomen Maurice Allais aufgestellt wurde. Das Paradoxon zeigt, dass Menschen systematisch von den Vorhersagen der Erwartungsnutzentheorie abweichen, insbesondere wenn es um die Wahl zwischen sicheren Ergebnissen und Glücksspielen mit geringer Wahrscheinlichkeit sehr hoher Gewinne geht. Dies deutet darauf hin, dass die Annahme der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, ein Axiom der Theorie, in der Realit5, 6, 7ät oft verletzt wird.

Weitere Kritikpunkte umfassen:

  • Vernachlässigung kontextueller und emotionaler Faktoren: Die Theorie geht davon aus, dass3, 4 Entscheidungen rein auf rationalen Berechnungen basieren und ignoriert den Einfluss von Emotionen, Framing-Effekten oder der Art und Weise, wie Optionen präsentiert werden.
  • Begrenzte kognitive Fähigkeiten: Menschen verfügen nicht über unbegrenzte Informationsverarbeitungskapazitäten, um alle Wah2rscheinlichkeiten und Nutzen zu berechnen, wie es die Erwartungsnutzentheorie voraussetzt.
  • Referenzpunkt-Abhängigkeit: Die Erwartungsnutzentheorie geht von absoluten Nutzenwerten aus, während die Forschung zur [Verhalt1ensökonomie]() zeigt, dass Menschen Ergebnisse oft relativ zu einem bestimmten Referenzpunkt bewerten, also Gewinne und Verluste unterschiedlich wahrnehmen.

Diese Einschränkungen haben zur Entwicklung alternativer Modelle geführt, die versuchen, die beobachteten Anomalien im Entscheidungsverhalten besser zu erklären.

Erwartungsnutzentheorie vs. Prospect Theory

Die Erwartungsnutzentheorie und die Prospect Theory (Prospect-Theorie) sind beide Modelle der Entscheidungstheorie, die sich mit Entscheidungen unter Unsicherheit befassen, weisen jedoch grundlegende Unterschiede auf.

MerkmalErwartungsnutzentheorieProspect Theory
GrundlageNormativ: Beschreibt, wie rationale Individuen handeln solltenDeskriptiv: Beschreibt, wie Menschen tatsächlich handeln
NutzenbegriffMisst den absoluten Nutzen von Endvermögen oder -zuständen.Misst den Nutzen/Wert von Gewinnen und Verlusten relativ zu einem Referenzpunkt.
RisikoeinstellungWird durch die Form der Nutzenfunktion über den gesamten Vermögensbereich hinweg definiert.Hängt vom Referenzpunkt ab: Risikoavers bei Gewinnen, risikofreudig bei Verlusten.
WahrscheinlichkeitenWerden linear in die Berechnung des erwarteten Nutzens einbezogen.Werden durch eine Gewichtungsfunktion verzerrt wahrgenommen (geringe Wahrscheinlichkeiten über-, hohe Wahrscheinlichkeiten unterbewertet).
AbweichungenErklärt das Allais-Paradoxon und andere empirische Abweichungen nicht.Erklärt das Allais-Paradoxon und andere Abweichungen vom rationalen Verhalten besser.
EntwicklerDaniel Bernoulli, John von Neumann, Oskar MorgensternDaniel Kahneman, Amos Tversky

Während die Erwartungsnutzentheorie als Fundament der modernen Wirtschaftstheorie dient, bietet die Prospect Theory einen alternativen Ansatz, der die psychologischen Eigenheiten menschlicher Entscheidungen unter Unsicherheit, wie Verlustaversion und Verzerrungen bei der Wahrscheinlichkeitswahrnehmung, besser berücksichtigt.

FAQs

Was ist der Hauptunterschied zwischen Erwartungswert und erwartetem Nutzen?

Der Erwartungswert ist der durchschnittliche monetäre Wert eines unsicheren Ergebnisses, berechnet als die Summe der Produkte von jedem möglichen Ergebnis und seiner Wahrscheinlichkeit. Der erwartete Nutzen hingegen ist der gewichtete Durchschnitt des subjektiven Nutzens jedes möglichen Ergebnisses. Eine risikoaverse Person maximiert ihren erwarteten Nutzen, auch wenn dies zu einem geringeren monetären Erwartungswert führt.

Warum ist die Nutzenfunktion in der Erwartungsnutzentheorie wichtig?

Die Nutzenfunktion bildet die individuellen Präferenzen und die Risikobereitschaft einer Person ab. Eine konkave Form signalisiert beispielsweise, dass eine Person risikoavers ist, weil der zusätzliche Nutzen aus einem Gewinn abnimmt, je mehr Vermögen sie bereits besitzt. Ohne eine Nutzenfunktion würde die Theorie lediglich den monetären Erwartungswert betrachten, was dem beobachteten menschlichen Verhalten oft nicht gerecht wird.

Ist die Erwartungsnutzentheorie deskriptiv oder normativ?

Die Erwartungsnutzentheorie ist primär ein normatives Modell. Das bedeutet, sie beschreibt, wie Individuen handeln sollten, wenn sie vollkommen rational wären und ihre Axiome erfüllen. Sie ist weniger ein deskriptives Modell, das das tatsächliche menschliche Entscheidungsverhalten unter Unsicherheit akkurat vorhersagt oder erklärt, da empirische Studien zeigen, dass Menschen systematisch von diesen rationalen Annahmen abweichen.

Wie hängt die Erwartungsnutzentheorie mit der Risikobereitschaft zusammen?

Die Erwartungsnutzentheorie integriert die Risikobereitschaft eines Individuums durch die Form seiner Nutzenfunktion. Eine konkave Nutzenfunktion impliziert Risikovermeidung, was bedeutet, dass eine Person eine sichere Auszahlung gegenüber einem fairen Glücksspiel mit demselben Erwartungswert bevorzugt. Eine lineare Nutzenfunktion steht für Risikoneutralität, während eine konvexe Funktion Risikofreude widerspiegelt.