Was ist Verhaltensökonomie?
Die Verhaltensökonomie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, das psychologische Erkenntnisse nutzt, um zu erklären, wie und warum Menschen wirtschaftliche Entscheidungen treffen, die von den Annahmen der traditionellen Ökonomie abweichen. Sie gehört zur Verhaltensfinanzierung, einem breiteren Feld, das psychologische Einflüsse auf Finanzmärkte und individuelle Anlageentscheidungen untersucht. Im Gegensatz zur klassischen ökonomischen Theorie, die davon ausgeht, dass Menschen stets rationale Akteure sind, die ihre Nutzen maximieren, berücksichtigt die Verhaltensökonomie kognitive Verzerrungen, Emotionen und soziale Faktoren, die die Entscheidungsfindung beeinflussen. Sie zeigt auf, wie oft Heuristiken – mentale Abkürzungen – bei der Urteilsbildung zum Einsatz kommen.
Geschichte und Ursprung
Die Ursprünge der Verhaltensökonomie lassen sich bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen, als die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky begannen, systematische Abweichungen von der rationalen Entscheidungstheorie zu dokumentieren. Ihre bahnbrechende Arbeit zur Prospekt-Theorie, die 1979 in ihrem Artikel "Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk" veröffentlicht wurde, zeigte, dass Menschen Gewinne und Verluste asymmetrisch bewerten und dass die Angst vor Verlusten oft stärker ist als die Freude über Gewinne von gleichem Ausmaß. MIT PDF Diese Erkenntnisse legten den Grundstein für die Verhaltensökonomie, indem sie aufzeigten, dass menschliches Verhalten nicht immer dem idealisierten Modell des Homo Oeconomicus entspricht.
Ein weiterer wichtiger Wegbereiter war Richard H. Thaler, der für seine Beiträge zur Verhaltensökonomie 2017 mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Nobel Prize Site Thaler integrierte psychologisch realistische Annahmen in die Analyse wirtschaftlicher Entscheidungen und untersuchte die Folgen begrenzter Rationalität, sozialer Präferenzen und mangelnder Selbstkontrolle, wodurch er zeigte, wie diese menschlichen Eigenschaften systematisch individuelle Entscheidungen und Marktergebnisse beeinflussen.
Wichtigste Erkenntnisse
- Die Verhaltensökonomie geht davon aus, dass menschliche Entscheidungen von psychologischen Faktoren und kognitiven Verzerrungen beeinflusst werden, nicht nur von rationaler Nutzenmaximierung.
- Sie erklärt Phänomene wie die Verlustaversion (die Tendenz, Verluste stärker zu gewichten als Gewinne), die mentale Buchführung (die Art und Weise, wie Individuen Geld in verschiedenen "Konten" im Kopf verwalten) und den Anker-Effekt (die Tendenz, sich zu stark an der ersten erhaltenen Information zu orientieren).
- Die Verhaltensökonomie analysiert systematische Fehler, wie den Bestätigungsfehler, bei dem Informationen bevorzugt werden, die bestehende Überzeugungen bestätigen.
- Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie werden genutzt, um das Anlageverhalten besser zu verstehen und effektivere Strategien zu entwickeln.
Interpretation der Verhaltensökonomie
Die Verhaltensökonomie hilft zu verstehen, warum Menschen in der realen Welt von rationalen ökonomischen Modellen abweichen. Sie zeigt auf, dass Entscheidungen nicht immer auf einer umfassenden Analyse aller verfügbaren Informationen basieren, sondern oft durch unbewusste Denkmuster oder emotionale Reaktionen geleitet werden. Zum Beispiel kann der Framing-Effekt dazu führen, dass dieselbe Information je nach Präsentation zu unterschiedlichen Entscheidungen führt, selbst wenn der Inhalt identisch ist. Das Verständnis dieser Effekte ist entscheidend, um die Diskrepanz zwischen idealisiertem rationalem Verhalten und tatsächlichem menschlichem Handeln zu überbrücken und damit realistischere Modelle zu entwickeln.
Hypothetisches Beispiel
Stellen Sie sich vor, ein Anleger erwägt den Kauf von Aktien und hat die Wahl zwischen zwei Unternehmen, A und B. Beide haben historisch ähnliche Renditen erzielt. Eine Nachrichtenagentur berichtet jedoch, dass Unternehmen A "solide Gewinne prognostiziert", während eine andere Agentur über Unternehmen B meldet, es habe "keine Verluste erwartet". Obwohl beide Aussagen im Grunde auf eine neutrale Erwartung hindeuten, könnte der Anleger aufgrund der positiven Formulierung bei Unternehmen A höhere Renditeerwartungen entwickeln und dazu neigen, in dieses zu investieren, während das negative Framing bei Unternehmen B ihn abschreckt. Dieses Verhalten wird durch die Verhaltensökonomie erklärt, die die subtilen Einflüsse der Informationsdarstellung auf die Entscheidungen beleuchtet.
Praktische Anwendungen
Die Verhaltensökonomie hat weitreichende praktische Anwendungen in verschiedenen Bereichen. Im Finanzwesen hilft sie Finanzberatern und Investoren, typische psychologische Fallstricke zu erkennen und zu managen, um bessere Entscheidungen in der Finanzplanung zu treffen. Unternehmen nutzen verhaltensökonomische Prinzipien, um Marketingstrategien zu optimieren und das Konsumentenverhalten besser zu verstehen. Auch Regierungen und politische Entscheidungsträger wenden Erkenntnisse der Verhaltensökonomie an, um "Nudges" (Anstöße) zu entwickeln, die das öffentliche Verhalten im gewünschten Sinne beeinflussen, ohne die Wahlfreiheit einzuschränken. Die britische Finanzaufsichtsbehörde Financial Conduct Authority (FCA) veröffentlichte beispielsweise 2013 erste Arbeiten, wie verhaltensökonomische Prinzipien zur Verbesserung des Verbraucherschutzes und der Wettbewerbsfähigkeit auf Finanzmärkten genutzt werden können. FCA Press Release
Einschränkungen und Kritik
Trotz ihrer wachsenden Bedeutung ist die Verhaltensökonomie nicht ohne Kritik. Einige Kritiker argumentieren, dass viele Erkenntnisse aus Laborversuchen stammen und ihre Übertragbarkeit auf komplexe reale Märkte begrenzt sein könnte. Die Vielfalt der identifizierten Verzerrungen kann es zudem schwierig machen, ein kohärentes, einheitliches Modell menschlichen Verhaltens zu entwickeln, das so prädiktiv ist wie die traditionelle ökonomische Theorie. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die mangelnde normative Ausrichtung: Während die Verhaltensökonomie gut beschreiben kann, wie Menschen handeln, gibt sie oft keine klaren Anweisungen, wie sie handeln sollten. Es wird auch argumentiert, dass die Markteffizienz-Hypothese und die Konkurrenz im Laufe der Zeit dazu führen könnten, dass irrationale Verhaltensweisen korrigiert oder abgemildert werden. Anastasiia Kozlova erörtert in ihrer Arbeit "CRITICISM OF BEHAVIOURAL ECONOMICS: ATTACKS TOWARDS IDEOLOGY, EVIDENCE AND PRACTICAL APPLICATION" solche Bedenken, einschließlich des Zweifels an der Neuartigkeit der Ideen und der Generalisierbarkeit von Studienergebnissen. SSRN Paper
Verhaltensökonomie vs. Rational-Choice-Theorie
Der Hauptunterschied zwischen der Verhaltensökonomie und der Rational-Choice-Theorie liegt in ihren grundlegenden Annahmen über menschliches Verhalten. Die Rational-Choice-Theorie, ein Eckpfeiler der neoklassischen Ökonomie, postuliert, dass Individuen vollkommen rational handeln, alle verfügbaren Informationen verarbeiten und stets Entscheidungen treffen, die ihren Nutzen maximieren. Sie basiert auf dem Konzept des idealen, rein rationalen Akteurs, dem sogenannten Homo Oeconomicus.
Die Verhaltensökonomie hingegen hinterfragt diese Annahmen, indem sie aufzeigt, dass Menschen systematisch von dieser Idealvorstellung abweichen. Sie berücksichtigt, dass Menschen oft durch Emotionen, kognitive Verzerrungen oder soziale Normen beeinflusst werden. Während die Rational-Choice-Theorie ein normatives Modell dafür ist, wie Entscheidungen getroffen werden sollten, ist die Verhaltensökonomie ein deskriptives Modell, das erklärt, wie Entscheidungen in der Realität tatsächlich getroffen werden. Die Verwechslung entsteht oft, weil beide Felder versuchen, Entscheidungsprozesse zu analysieren, jedoch mit unterschiedlichen Ausgangspunkten und Schwerpunkten.
FAQs
Was ist der Kern der Verhaltensökonomie?
Der Kern der Verhaltensökonomie liegt in der Erkenntnis, dass menschliche Entscheidungen nicht immer rational sind, sondern von psychologischen Faktoren, Emotionen und mentalen Abkürzungen beeinflusst werden. Dies führt zu systematischen Abweichungen vom idealisierten rationalen Verhalten, wie es die traditionelle Ökonomie annimmt.
Warum ist die Verhaltensökonomie wichtig für Anleger?
Für Anleger ist die Verhaltensökonomie wichtig, da sie hilft, die psychologischen Fallen und Voreingenommenheiten zu verstehen, die ihre Anlageentscheidungen beeinflussen können. Das Wissen über diese typischen Verzerrungen kann Anlegern helfen, diszipliniertere und rationalere Entscheidungen zu treffen, um ihre finanziellen Ziele besser zu erreichen.
Gibt es einen Unterschied zwischen Verhaltensökonomie und Verhaltensfinanzierung?
Verhaltensökonomie ist das breitere Feld, das die psychologischen Einflüsse auf wirtschaftliche Entscheidungen im Allgemeinen untersucht. Verhaltensfinanzierung ist ein spezifischer Unterbereich der Verhaltensökonomie, der sich auf die psychologischen Faktoren konzentriert, die die Entscheidungen von Anlegern und die Dynamik der Finanzmärkte beeinflussen.