Was ist Verhaltensorientierte Ökonomie?
Die Verhaltensorientierte Ökonomie (Behavioral Economics) ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das Erkenntnisse aus der Psychologie in die Wirtschaftswissenschaften integriert, um zu erklären, wie und warum Menschen tatsächlich wirtschaftliche Entscheidungen treffen. Sie bildet eine wichtige Säule der Verhaltensfinanzierung und hinterfragt die traditionelle Annahme der völligen Rationalität wirtschaftlicher Akteure, wie sie in vielen klassischen ökonomischen Modellen postuliert wird. Stattdessen erkennt die Verhaltensorientierte Ökonomie an, dass menschliche Entscheidungen häufig durch psychologische, soziale und emotionale Faktoren sowie durch kognitive Verzerrungen beeinflusst werden, die von den Annahmen der standardmäßigen Entscheidungstheorie abweichen.
Geschichte und Ursprung
Die Wurzeln der Verhaltensorientierten Ökonomie lassen sich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen, als Ökonomen wie Herbert A. Simon Konzepte der "Grenzrationalität" einführten. Der entscheidende Durchbruch gelang jedoch in den 1970er Jahren durch die Arbeit der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky. Ihre Forschung, insbesondere die Entwicklung der Prospekt-Theorie im Jahr 1979, lieferte empirische Beweise für systematische Abweichungen von der rationalen Entscheidungstheorie. Kahneman wurde für diese wegweisenden Erkenntnisse im Jahr 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, da er "psychologische Erkenntnisse in die Wirtschaftswissenschaften integriert hat, insbesondere im Hinblick auf menschliches Urteilen und Entscheiden unter Unsicherheit".
Ein weiterer promine10nter Vertreter, Richard H. Thaler, baute auf diesen Fundamenten auf und erweiterte die Verhaltensorientierte Ökonomie um Konzepte wie "mentale Buchführung", Anomalien am Markt und das Konzept des "Nudging". Thaler erhielt 2017 für seine Beiträge zur Verhaltensorientierten Ökonomie ebenfalls den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, da er zeigte, "wie menschliche Eigenschaften systematisch individuelle Entscheidungen sowie Marktergebnisse beeinflussen". Seine Arbeit hat maßgeblich9 dazu beigetragen, psychologische Erkenntnisse in die Analyse wirtschaftlicher Entscheidungsfindung zu integrieren.
Wesentliche Erkenntnisse6, 7, 8
- Begrenzte Rationalität: Menschen treffen Entscheidungen nicht immer perfekt rational, sondern sind durch begrenzte kognitive Fähigkeiten, Zeit und Informationen eingeschränkt.
- Kognitive Verzerrungen: Systematische Denkfehler (Biases) beeinflussen Urteile und Entscheidungen und führen zu Abweichungen von rationalen Modellen.
- Verlustaversion: Der Schmerz eines Verlustes wiegt psychologisch schwerer als die Freude über einen gleichwertigen Gewinn.
- Heuristiken: Menschen nutzen mentale Abkürzungen oder Faustregeln, um Entscheidungen schnell zu treffen, was jedoch zu Verzerrungen führen kann.
- Soziale Präferenzen: Faktoren wie Fairness, Reziprozität und soziale Normen spielen eine Rolle bei wirtschaftlichen Entscheidungen.
Interpretation der Verhaltensorientierten Ökonomie
Die Verhaltensorientierte Ökonomie interpretiert menschliches Verhalten als eine Mischung aus logischem Denken und psychologischen Einflüssen. Sie erklärt, warum Individuen häufig von den Vorhersagen traditioneller ökonomischer Modelle abweichen. Beispielsweise kann der Framing-Effekt zeigen, wie die Präsentation einer Information die Entscheidung beeinflusst, selbst wenn die zugrunde liegenden Fakten gleich bleiben. Ein weiteres zentrales Konzept ist die Verlustaversion, die besagt, dass Menschen tendenziell das Vermeiden von Verlusten dem Erreichen von Gewinnen vorziehen, selbst wenn dies rational ungünstiger wäre. Diese Erkenntnisse sind entscheidend für das Verständnis von Konsumentenverhalten, Investitionsentscheidungen und der Gestaltung von Politikmaßnahmen.
Hypothetisches Beispiel
Stellen Sie sich zwei Anleger vor, Anleger A und Anleger B, die jeweils 10.000 Euro investieren möchten. Anleger A entscheidet sich für eine sichere Anlage mit einer garantierten Rendite von 2 % pro Jahr. Anleger B wird ein Angebot gemacht, das entweder 4 % Rendite mit 50 % Wahrscheinlichkeit oder 0 % Rendite mit 50 % Wahrscheinlichkeit verspricht.
Ein rationaler Anleger würde die erwartete Rendite berechnen. Für Anleger B wäre dies (0,5 * 4%) + (0,5 * 0%) = 2%. Die erwartete Rendite ist also gleich, aber Anleger B trägt ein höheres Risiko.
Die Verhaltensorientierte Ökonomie würde jedoch vorhersagen, dass viele Anleger, die anfänglich risikoavers sind, dennoch dem potenziellen höheren Gewinn von 4% erliegen könnten, insbesondere wenn das Angebot mit positiven Worten oder durch eine bestimmte Heuristik präsentiert wird. Oder sie könnten sich aufgrund des Framing-Effekts von der Art der Präsentation der Optionen beeinflussen lassen. Wenn Anleger B beispielsweise bereits eine Serie von Verlusten erlebt hat, könnte die Selbstkontrolle nachlassen und die Neigung zu riskanteren Entscheidungen steigen, um Verluste auszugleichen.
Praktische Anwendungen
Die Verhaltensorientierte Ökonomie hat weitreichende Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Finanzwelt und der öffentlichen Politik:
- Investitionsentscheidungen: Sie hilft, häufige kognitive Verzerrungen bei Investoren zu erkennen, wie Herdenverhalten (dem Verhalten der Masse zu folgen), Überoptimismus oder Verankerung, die zu suboptimalen Asset-Allokation-Entscheidungen führen können. Finanzberater nutzen diese Erkenntnisse, um Kunden bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen und Anlagestrategien anzupassen.
- Finanzberatung: Professionelle Finanzberatung integriert verstärkt Erkenntnisse der Verhaltensorientierten Ökonomie, um Anlegern zu helfen, emotionalen Fallstricken zu entgehen und diszipliniert zu bleiben.
- Regulierungsbehörden und Politik: Regierungen und Aufsichtsbehörden nutzen zunehmend Erkenntnisse aus der Verhaltensorientierten Ökonomie, um effektivere Vorschriften und öffentliche Politiken zu gestalten. Ein bekanntes Beispiel ist das Konzept des "Nudging", popularisiert durch das Buch "Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness" von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein. Dieses Konzept schlägt vor, Menschen durch subtile Änderungen in der "Wahlarchitektur" zu besseren Entscheidungen zu "stupsen", ohne ihre Wahlfreiheit einzuschränken. Die Federal Reserve hat beispielsweise untersucht, wie verhaltensökonomische Erkenntnisse die Geldpolitik beeinflussen können und wie Verbraucherentscheidungen bezüglich Kreditprodukten durch Verzerrungen beeinflusst werden können.
Grenzen und Kritikpunkte
Trotz ihres wachsenden Einflusses ist die Verhaltensori3, 4, 5entierte Ökonomie nicht ohne Grenzen und Kritikpunkte. Ein Hauptkritikpunkt ist, dass sie zwar systematische Abweichungen von der Rationalität aufzeigt, aber möglicherweise keine umfassenden Vorhersagemodelle für das menschliche Verhalten liefert. Kritiker argumentieren, dass viele der beobachteten "Anomalien" in realen, komplexen Märkten, die von Anreizen und Lernprozessen geprägt sind, abgeschwächt oder sogar beseitigt werden könnten, und die Effizienzmarkthypothese in gewissem Maße weiterhin gilt.
Einige Ökonomen halten an der Vorstellung fest, dass Individuen in wettbewerbsorientierten Umgebungen tendenziell zu rationalem Verhalten zurückkehren oder durch Marktkräfte bestraft werden, wenn sie irrational handeln. Die Verhaltensorientierte Ökonomie wird manchmal dafür kritisiert, sich zu stark auf einzelne kognitive Verzerrungen zu konzentrieren, anstatt eine kohärente Theorie der Grenzrationalität zu entwickeln. Forschung der Federal Reserve Bank of St. Louis weist darauf hin, dass, obwohl kognitive Fehler und Zeitinkonsistenzen auftreten, das Ausmaß, in dem diese Phänomene die tatsächlichen Marktentscheidungen beeinträchtigen, noch unklar ist. Die Debatte konzentriert sich darauf, wie psychologische Erkenntnisse Wirtschaftsmodelle zur Ersparnisbil2dung, Arbeitslosigkeit, Konsumentennachfrage und Finanzmarktschwankungen sinnvoll beeinflussen können.
Verhaltensorientierte Ökonomie vs. Neoklassische Ökonomie
Der grundlegende Unterschied zwischen der V1erhaltensorientierten Ökonomie und der Neoklassischen Ökonomie liegt in ihren Annahmen über menschliches Verhalten.
Merkmal | Neoklassische Ökonomie | Verhaltensorientierte Ökonomie |
---|---|---|
Menschliches Modell | Homo Oeconomicus (vollständig rational, eigennützig, informationell perfekt) | Mensch als "Econo" (rational, aber mit kognitiven Grenzen, Emotionen und Biases) |
Entscheidungsfindung | Logisch, konsistent, maximiert Nutzen unter Einschränkungen | Beeinflusst durch Heuristiken, Biases, Emotionen, soziale Faktoren |
Informationsverarbeitung | Vollständig und effizient | Unvollständig, anfällig für Framing und Verzerrungen |
Ziele | Normativ (wie Entscheidungen getroffen werden sollten) | Deskriptiv (wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden) |
Fokus | Marktgleichgewichte, Effizienz | Abweichungen von der Rationalität, Vorhersage von "irrationalem" Verhalten |
Während die Neoklassische Ökonomie oft als Modell dient, das beschreibt, wie rationale Akteure Entscheidungen treffen sollten, versucht die Verhaltensorientierte Ökonomie, das tatsächliche Verhalten von Menschen zu erklären, indem sie psychologische Realitäten berücksichtigt. Die Neoklassische Ökonomie geht davon aus, dass Akteure ihre Entscheidungen auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen treffen und ihren Nutzen maximieren. Die Verhaltensorientierte Ökonomie hingegen zeigt auf, dass Menschen oft mentale Abkürzungen nehmen und von kognitiven Verzerrungen betroffen sind, die zu suboptimalen Ergebnissen führen können.
FAQs
Was ist der Hauptunterschied zwischen traditioneller und Verhaltensorientierter Ökonomie?
Der Hauptunterschied liegt in den Annahmen über menschliche Rationalität. Die traditionelle Ökonomie geht von vollständig rationalen Akteuren aus, während die Verhaltensorientierte Ökonomie anerkennt, dass menschliche Entscheidungen durch psychologische Faktoren, kognitive Verzerrungen und Emotionen beeinflusst werden.
Welche Rolle spielt die Psychologie in der Verhaltensorientierten Ökonomie?
Die Psychologie liefert die theoretischen Grundlagen und empirischen Erkenntnisse über menschliche Kognition, Emotionen und Motivation, die erklären, warum Menschen in wirtschaftlichen Situationen von rationalen Modellen abweichen. Sie hilft, Phänomene wie die Prospekt-Theorie oder die Verlustaversion zu verstehen.
Kann die Verhaltensorientierte Ökonomie helfen, bessere Finanzentscheidungen zu treffen?
Ja, indem sie die psychologischen Fallstricke aufzeigt, die zu Fehlern führen können, ermöglicht die Verhaltensorientierte Ökonomie ein bewussteres und informierteres Treffen von Finanzentscheidungen. Das Wissen um Heuristiken und Biases kann Anlegern helfen, ihre eigenen irrationalen Tendenzen zu erkennen und entgegenzuwirken.